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Der Horizon-Skandal: Wie ein fehlerhaftes IT-System hunderte Leben ruinierte

Meldung von doelf, Dienstag der 15.02.2022, 17:10:55 Uhr

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Es ist einer der größten Justizskandale des modernen Europas: Zwischen den Jahren 2000 und 2014 wurden im Vereinigten Königreich 736 Unterpostmeister und Unterpostmeisterinnen wegen Unterschlagung angeklagt und reihenweise verurteilt. Einige mussten ins Gefängnis, fast alle mussten hohen Schadensersatz zahlen und alle waren nach ihrer Verurteilung finanziell sowie gesellschaftlich ruiniert. Inzwischen steht fest: Schuld waren nicht die menschlichen Mitarbeiter sondern Kollege Computer.

Als Unterpostmeister bzw. -postmeisterinnen werden im Vereinigten Königreich die Leiter der Postfiliallen bezeichnet und diese sind dafür verantwortlich, dass am Ende des Tages die Kasse stimmt. Um Aufgaben wie Transaktionen, Buchhaltung und Bestandsaufnahme zu erleichtern, wurden die britischen Postfilialen ab 1999 nach und nach mit dem von Fujitsu entwickelten Buchhaltungssystem Horizon ausgestattet. Doch Horizon wies von Anfang an immer wieder hohe Fehlbeträge auf, was die Post auf ihre Weise interpretierte und den betroffenen Filialleitern falsche Buchhaltung zum Zwecke des Diebstahls vorwarf. Im Schnitt landete jede Woche ein Filialleiter bzw. eine Filialleiterin vor Gericht, während die Bug-Berichte der Postmitarbeiter offenbar in den Papierkorb wanderten. Um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, versuchten einige Mitarbeiter die Fehlbeträge aus eigener Tasche auszugleichen. Manche nahmen sogar Kredite auf, doch Horizon war ein Loch ohne Boden.

Es dauerte zwanzig Jahre, bis die Betroffenen vor Gericht die Wiederaufnahme ihrer Verfahren erreichen konnten und seit Montag laufen die Anhörungen in einer öffentlichen Untersuchung zu diesem unglaublichen Skandal. Der Wendepunkt kam im Dezember 2019, als die Post am Ende einer langen Reihe von Zivilverfahren klein beigab und einem Vergleich mit 555 Betroffenen zustimmte. Man hätte im Umgang mit einer Reihe von Postmeistern Fehler gemacht, erklärte das Unternehmen damals, und zahlte Entschädigungen in Höhe von 58 Millionen Pfund. Der Löwenanteil davon, sage und schreibe 46 Millionen Pfund, wurde von den Anwaltskosten verschlungen. Den Klägern blieben 12 Millionen Pfund - durchschnittlich 21.621 Pfund pro Kläger. Dies dürfte in vielen Fällen nicht einmal den Schadensersatz abdecken, den die Betroffenen nach ihrer Verurteilung an die Post hatten zahlen müssen. Die verlorenen Jahre vor Gericht und im Strafvollzug sowie die Zerstörung jeglicher beruflichen Karriere sind gar nicht eingerechnet.

Wenige Tage nach dem Vergleich hielt der High Court in seinem Urteil fest, dass Horizon über einen Zeitraum von zehn Jahren alles andere als stabil funktioniert habe. Das System habe Bugs, Fehler und Defekte enthalten, weshalb die Fehlbeträge auf den Filialkonten mit großer Wahrscheinlichkeit systembedingt seien. In Folge dieses Urteils wurden immer mehr Fälle der unabhängigen Kommission zur Überprüfung von Strafsachen (CCRC) vorgelegt, die bisher 72 Verurteilungen von Unterpostmeistern und -postmeisterinnen aufgehoben hat. Alleine am 23. April 2021 wurden auf einen Schlag 39 Verurteilungen gekippt, als die Richter von einem Affront gegen das öffentliche Gewissen sprachen. Neil Hudgell, der als Anwalt 29 der zu Unrecht Verurteilten vertrat, erhob schwerste Vorwürfe gegen das Management der Post. Dieses habe nicht nur weggesehen, sondern bewusst versucht, die offenkundigen Mängel ihres kostspieligen IT-Systems zu vertuschen und dafür hunderte von Mitarbeitern geopfert.

Die rehabilitierten Filialleiter können nun eine Zivilklage wegen böswilliger Verfolgung gegen die Post einreichen und deutlich mehr Schadensersatz bekommen, als die Post im Vergleich von 2019 zugesagt hatte. Leider gelten die 555 Betroffenen, die diesem Vergleich zugestimmt hatten, als abgegolten und dürfen keine weiteren Forderungen stellen. Als vorläufige Entschädigung bietet die Post derzeit bis zu 100.000 Pfund an, wobei das Geld von der Regierung und somit letztendlich aus Steuergeldern kommt. Die Einzelfälle möchte die Post gerne durch Mediatoren aushandeln, doch es dürfte auch zu mehreren Zivilprozessen kommen. Man darf auch gespannt sein, ob die laufende öffentliche Untersuchung am Ende doch noch die Verantwortlichen für diesen Skandal benennen wird. Bisher wurde niemand aus dem Management der Post und auch niemand von Fujitsu zur Rechenschaft gezogen. Neben dem Vorwurf der böswilligen Verfolgung stehen auch wissentliche Falschaussagen im Raum.

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